Museum der abwesenden Bilder

 Die Idee
 Gründer, Freunde und Förderer
 Sammlungen und Ausstellungen
    Sein und Schein
    Phantasie und Traum
    Anwesenheit Leere
    Meinungsträger
    Klangwelten "Wer nicht
    sehen will darf hören"

 Information und Theoriediskurs
 Archiv
 Café International
 Aktuelles

 zurück zur Startseite




Ursula Schöpper: Thesen zur Notwendigkeit einer kulturellen Bildung im Bildungssystem Schule


Vermittlung ästhetischer und kommunikativer Kompetenzen in technisch - medialen Umwelten


Das Bildungssystem Schule bedarf einer notwendigen Klärung. Schule im weiteren Sinn bedeutet Bildungssystem innerhalb einer demokratischen Gesellschaft. Schule ist nicht nur Ort des Lernens, Schule ist Bildungszeit, Lebenszeit. Sie ist Bildungswelt in Umwelt.

Schule der Zukunft, was wird sie leisten können, wo sind ihre zu verantwortenden, notwendigen Interessen? Zukunft der Bildung, wer sind ihre verantwortlichen Gestalter? Wenn Bildung angeeignetes Wissen bedeutet (Hegel), hält Schule einem Rechner, dem Computer, mit seinem gespeichertem Wissen stand? Der Computer verspricht keine Gewißheit, keinen verbindlichen Konsens. Schule jedoch verantwortet, sie verantwortet, dass ihre Mitglieder nicht aus dem Denken ins Wissen fliehen. Ungeprüftes Wissen bleibt Scheinwissen. Die Forderungen der klassischen Bildungstheoretiker " Bediene dich deines eigenen Verstandes, deiner eigenen Vernunft", also die Herausbildung der selbstbestimmten moralischen Handlungsbereitschaft und -fähigkeit hat nach wie vor seine Gültigkeit.Nach Kant bedeutet Verstand die instrumentelle Rationalität, die Wissen und Erkenntnis produziert, Vernunft, reflexive Rationalität, die nach Voraussetzungen der verstandesmäßigen Erkenntnis und den begründbaren Zielen der Anwendung von Wissen und Erkenntnis fragt. Der moralische Anspruch bedeutet, dass die Möglichkeiten der instrumentellen Rationalität auf humane Zwecke und auf eine humane Existenz des Menschen bezogen sind.
 
"Informatisierte Industriealisierung" und technologischer Fortschritt dürfen beim Menschen nicht eine Reduzierung der reflexiven, sinnsuchenden Vernunft zugunsten des instrumentellen Verstandes verursachen.

Bildungsaufgabe der Schule sollte bei einer zunehmenden Mediatisierung sein, zusätzliche Möglichkeiten zur Wahrnehmung der ästhetischen Dimension zu schaffen. Berücksichtigt werden sollte die "Bildung der Empfindsamkeit (i.S. der Verfeinerung des Empfindungsvermögens) gegenüber Naturphänomenen und menschlichem Ausdruck, Entwicklung der Einbildungskraft oder Phantasie, des Geschmacks, der Genußfähigkeit und der ästhetischen Urteilskraft, Befähigung zum Spiel und zur Geselligkeit"(Klafki). Die Ästhetik des Alltäglichen, der Lebensgestaltung, der zwischenmenschlichen Kultur haben eine formende, prägende Bedeutung. Gemeint ist ein erweitertes Verständnis von Kultur und Ästhetik, eine dialogische Wechselwirkung von Kultur und Bildung im schulischen Leben. Kognitives Begreifen und ästhetisches Erfassen eines Zustandes sind wichtig für die ganzheitliche Bildung des Menschen. Der Mensch als Ganzes im Mittelpunkt der Bildung läßt ihn als mündiges Individuum angemessen mit komplexen Anforderungen des sozialen und technologischen Wandels in der Gesellschaft verantwortlich handeln.Thematisiert Schule auch kulturelle Bildungsinhalte, ästhetische und kommunikative, so fördert sie Kompetenz und Kreativität.
 
Bildungsarbeit sollte Sinn- und Orientierungshilfe bieten, indem sie ästhetische, die das Wahrnehmen und Fühlen betreffenden und kognitive, die das Wissen und Denken betreffenden Dimensionen mit der praktischen Handlungskompetenz verbindet und kommunikative Situationen ermöglicht.

Bildungsprozeß meint poesis, das Hervorbringen, und nicht techne, das Herstellen von etwas. Erziehung in diesem Zusammenhang ermöglicht reflexive Selbstkonstitution von Subjektivität. Kultur und Bildung hängen in einem erweitertem Verständnis ihrer Begriffe eng und elementar zusammen.Kultur als Lebensweise und als gestaltete Lebenswelt eines Kulturraumes sind der Bezugspunkt für Bildung. Andererseits prägen Ausdrucksformen und gestaltete Aktionen der " Gebildeten" die Kultur.
 
Kultur und Bildung stehen im permanenten Wechselverhältnis und berücksichtigen historische, gesellschaftliche Bezüge respektive ihre Wandlungsprozesse.Schule muß daher ein Ort erlebter Erkenntnis und erfahrener Kommunikation sein. Sinnvolles Handeln setzt sinnliche Erfahrung voraus. Nur so wird sich der Lernende mit seinem Tun identifizieren und findet zu seiner Identität.

Lernen, ein Sichbilden benötigen mehr als ein Bereitstellen von Wissen, von organisiertem Wissen.In einer Welt der Technisierung ,der Information und Mediatisierung bleibt der Mensch ein offenes, kommunikatives Wesen,wenn er die Chance erhält, reale Welt , Medienrealität, als Teil der Wirklichkeit, mit allen Sinnen zu erfahren.Er benötigt Raum zum Vertrautmachen, Raum zum Experimentieren, Raum zum Erinnern, Raum zum Nachdenken und Raum zum Fühlen. Eine gelungene Dialogkette im Bildungsprozeß könnte wie folgt aussehen:

durch Information Wissen verschaffen
 
durch Wissen Verstehen
 
durch Verstehen Verständnis
 
durch Verständnis Einverständnis, Kommunikation
 
durch Einverständnis Reaktion
 
durch Reaktion Eigenständige Aktion
 
durch Agieren Erfahrung
 
durch Erfahrung Entscheidungskompetenz
 
durch Entscheidungskompetenz Experimentierfreude
 
durch Experimentieren Erkunden
 
durch Erkunden Kreatives, autonomes Handeln

Je nach Qualität des Bildungsniveaus kann es zu Aufspaltungen der Dialogkette kommen und eine andere Fortsetzung finden als beschrieben.
Themen und Sachverhalte sollten nicht nur kognitiv angeeignet werden, sondern beispielsweise im Experiment, auch fächerübergreifend, erfahren werden. Im Empfinden erleben wir uns in und mit unserer Welt. Die klassischen Bildungstheorien zeichnen sich durch folgende übergreifende Charakteristika aus:
- Befähigung zur Selbstbestimmung

- Subjektentwicklung durch Bezug zur Welt

- Individualität und Gemeinschaftlichkeit, die die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension meint (Sting,Wolfgang).

Medien, die mit interaktiven Kommunikationstechniken arbeiten, beeinflussen die menschliche Wahrnehmung und ihre künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten. Interaktion ermöglicht eigenes Erleben. Was ist das, was ich hier tue, erfahre, erfasse? Die Sehnsucht, in eine virtuelle Welt einzutauchen, kennen wir aus den Märchenwelten, Sagen und Sciencefiction - Filmen. Alice im Wunderland purzelt durch einen Baum in eine andere, neue Welt, und wir folgen ihr gern mit unserer Phantasie. Wird es so sein, dass die Menschen in Zukunft mehr Zeit in virtuellen Welten zubringen? Verstärken die neuen Medien den Kontakt unserer Sinne zur Wirklichkeit oder gibt es eine Enteignung der Sinne durch die medientechnische Entwicklung? Durch Bildung muß vermieden werden, dass der Mensch in eine Identitätskrise gerät, weil er glaubt, die zweite Wirklichkeit der medialen Welt sei realer als der eigene Erfahrungszusammenhang. Kommunikative Nähe im Bilden und Lernen bleibt Voraussetzung, um Grenzüberschreitungen angstfrei, reflexiv wahrnehmen zu können. Mediale Technik zeigt eine Möglichkeit nach. Sie ist nicht virtuell.
 
Die neuen Medien sollten nicht Wunschmaschinen sein, die sich vornehmlich an die Einbildung wenden, keine Rationalisierung der Wunsch- und Phantasieproduktion. Die neue Technologie erfordert weltweit eine Sprache, die alle Aspekte des Lebens in Information übersetzen kann, eine globale Sprache, die von mündigen, kompetenten Menschen decodiert werden kann. Die neuen Medien sollten nicht nur als funktionale Systeme begriffen werden, die Informationssysteme bereitstellen oder funktional als Organisationssyteme genutzt werden, sondern auch kommunikative Systeme kultureller Sinnbildung bedeuten können.

Fortschritt suggeriert Entwicklung zu etwas hin und macht gleichzeitig Qualitäten des Verlassenen nachträglich markant deutlich. Beispielsweise mag kein Mensch ein Buch am Bildschirm lesen. Es wird häufig der knappen textlichen Darstellung in den neuen Medien ein wenig Schnickschnack beigegeben, sodass noch weniger gelesen wird. Man klickt und doppelklickt, und der fatale Eindruck entsteht, Worte werden Bilder,die Inhalte ersetzen könnten. Mediale Bildung fordert Grenzbenennung der verschiedenartigen Gattungen, Grenzüberschreitung, Grenzformulierungen und Reflexion ihrer Bedingungen.
 
Jeffrey Shaw, "The Legible City", ist ein Beispiel, wie interaktive Technik der ästhetischen Gestaltung dienen kann, der dialogischen Gestaltung, der Wissensvermittlung, dem ästhetischen Erleben, der kreativen Gestaltung, also Bildung mit Genuß möglich macht und als Methapher einer globalen Sprache wirksam werden kann. Jeffrey Shaw, "The Legible City", ist somit ein Beispiel dafür, daß elektronische Medienkunst auch fächerübergreifend, altersungebunden, im Unterricht eine Rolle spielen kann. An einem Projekt dieser Art könnten die Fächer Informatik, Kunst, Deutsch, Geographie u.a. beteiligt sein.

Die neuen Medien sollten nicht nur als funktionale Systeme begriffen werden, die Informationssysteme bereitstellen oder funktional als Organisationssysteme genutzt werden, sondern sie dienen, kommunikativ und kreativ genutzt, auch kultureller Sinngebung. Kommunikation bedeutet nicht nur ein Zusammenspiel von Information, Mitteilung und Verstehen, sondern kommunikatives Handeln bedeutet gleichzeitig auch, dass Subjekte, Individuen, Handelnde beteiligt sind, jeder mit einer eigenen sozialen Identität, die kommunizierbar und gestaltbar ist. Darüber hinaus fordern immer auch seelisch-geistige Kräfte Möglichkeiten des Ausdrucks und des Austausches. Die Gestaltbarkeit und die Verantwortbarkeit von Wirklichkeit lassen neue Verbindungen von Kultur und Bildung zu.
Betrachtet man die Informatik auch als Strukturwissenschaft, so sind neben den technischen die sozialen Systeme zu berücksichtigen. Nicht nur das Herstellen, Verarbeiten und Verteilen von Informationen, sondern der Informationsausstauch mit anderen spielt eine entscheidende Rolle.
Die Richtlinien Erdkunde der Gymnasialen Oberstufe des Landes NRW sehen beispielsweise in 13/1 die Thematik "Die Stadt als Problemfeld unter dem Einfluß sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen" vor. Als Unterthemen wer-den genannt: Problemsituation heutiger Städte, Strukturen und Funktionen von Städten, Konzepte zur stadtbezogenen Raumordnung u. a.. Aktuelle Diskussionen aus dem Kulturbereich, der Architektur, wie Veröffentlichungen, also zeitgemäße konventionelle Medien, von Rem Koolhaas "Stadt ohne Eigenschaften" oder von Gertrudis Peters "Ist Urbanität planbar?" und "Wiedergeburt der Metropole Berlin - Dimension des öffentlichen Raumes" müssen ebenso Eingang in den schulischen Unterricht finden können wie eine Arbeit des Medienkünstlers Jeffrey Shaw, "The Legible City".
Die Arbeit "The Legible City" gestattet eine virtuelle Reise durch die Städte Amsterdam, Manhattan und Karlsruhe (Anlage: Info aus dem Internet, Jeffrey Shaw, "The Legible City"). Es werden Buchstaben in der Größe der realen Häuser Straße für Straße auf dem Originalstadtplan gesetzt, die beim Durchradeln mit einem realen Fahrrad sinnvolle Sätze ergeben. Satzbau und Bausatz und ihre Zusammenhänge folgen einer Grammatik des Bauens und der Sprache der Architektur. Das Ergebnis ist eine stadtgeographische Textarchitektur.
Inhaltliche Schnittstellen bieten sich an, indem fächerübergreifende Themen, beispielsweise "Apparative Kunst - digitale Technologie", die Informatik gleicherweise interessieren wie das Fach Kunst. Das Fach Kunst befaßt sich auch mit der Verwandlung von Räumen in Bilder und Bildern in Texte. Das Fach Deutsch oder Philosophie wählt wiederum andere Perspektiven, um gleichermaßen diese künstlerischen Codes der Welterfahrung für eigene Bildungslernschritte nutzen zu können.
Shaws Ziel ist auch die Beziehung zwischen Betrachter und Bild, wobei das Bild als Raumbild, als Bild der Umgebung verstanden wird. In der komplexen technischen Beziehung, der Schnittstellentechnologie, die Jeffrey Shaw zwischen Raum, Bild und Betrachter in der Synchronisierung der Bewegung der Schnittstellenapparatur (Kamera, Fahrrad, Joystick) entwickelt, ermöglicht er Interaktion zwischen Betrachter und Umwelt; d. h. der Betrachter ist nicht nur Nutzer, Anwender, sondern kreativ, interaktiv beteiligt. Jeffrey Shaw meint, "Ohne Bedienungsanleitung kein Gebrauch von Welt, ohne Agenda keine apparative Kunst". Shaws Kunst ist technische Beziehungskunst, da seine apparative Kunst technisch hergestellt, steuerbar die Voraussetzungen bietet, die Beziehung zur Welt nach eigenen Vorstellungen individuell herzustellen. Somit wäre dieses Kunstwerk ein neuartiges Beispiel für eine ausgezeichnete Matrix eines interaktiven, interdisziplinären kulturellen Bildungsangebotes, fächerübergreifend in der Bildungswelt Schule.
Wäre man bereit, dem Fach Informatik in der schulischen Bildung einen ähnlich erweiterten Stellenwert einzuräumen, wie sich beispielsweise auch der erweiterte Kulturbegriff auf einen umfassenderen Kontext in der heutigen Gesellschaft bezieht, so ließen sich viele interdisziplinäre fächerübergreifende Unterrichtsreihen entwickeln, die ebenso die konkrete Poesie wie gleichfalls die Literatur der neueren deutschen Literatur, beispielsweise Rainald Goetz "Irre", berücksichtigen und eine Vernetzung von geisteswissenschaftlichen und streng informationstechnischen Inhalten der Informatik zulassen.

© Ursula Schöpper




LITERATURHINWEISE

Bühl, Achim: "Cybersociety, Mythos und Realität der Informationsgesellschaft", PapyRossa Verlag GmbH, Köln 1996
Coy, Wolfgang: "Sichtweisen der Informatik, Theorie der Informatik", Vieweg Verlag Braunschweig, Wiesbaden 1992
Duguet, Anne-Marie, Klotz, Heinrich, Weibel, Peter: "Jeffrey Shaw, a user´s manual, eine Gebrauchsanweisung", Edition ZKM, Cantz Verlag, Ostfildern, 1997
Hentig von, Hartmut: "Bildung", Hanser Verlag, München 1996
Hentig von, Harmut: "Die Schule neu denken", Hanser Verlag, München 1993
Hünnekens, Annette: "Der bewegte Betrachter, Theorie der interaktiven Medienkunst", Wienand Verlag, Köln 1997
Internationaler Kongreß im Forum, "Der Sinn der Sinne", Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Presseinformation, 1997
Koolhaas, Rem: "Stadt ohne Eigenschaften", Lettre international, Frühjahr 1997
Kunst und Bild im Netz, Kulturprojekt, Bd. 1 Bilder: "Hyperlinks zwischen Kunst und Kommunikation", Institut für Bildung und Kultur, Remscheid
Lehmann, Ulrike, Weibel, Peter: "Ästhetik der Absenz, Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit", Klinkhardt und Biermann, München 1994
Münker, Stefan, Roesler, Alexander: "Mythos Internet" Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997
Peters, Gertrudis: "Ist Urbanität planbar? / Can Urbanity be Planned?" Berlin 1995, in "Making Cities Livable - Wege zur menschlichen Stadt", A Gondolier Press Book, Published by the International Making Cities Livable Conferences Carmel, California, USA 1997
Peters, Gertrudis: "Die Wiedergeburt der Metropole Berlin - Dimensionen des öffentlichen Raumes", Berlin 1997, Vortrag zur 20. IMCL-Konferenz, Santa Fe, New Mexico, USA, 15.-18. April 1997
Sting, Wolfgang: "Wildwuchs und Vielfalt, Kulturpädagogische Arbeit in Metropolen", Kulturpolitische Gesellschaft e.V., Hagen 1994
Zacharias, Wolfgang: "Sinnenreich, Vom Sinn einer Bildung der Sinne als kulturell-ästhetisches Projekt, Kulturpolitische Gesellschaft e.V., Hagen 1994

"Zukunft der Bildung, Schule der Zukunft", Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" beim Ministerpräsidenten NRW, Luchterhand Verlag GmbH, Neuwied 1995

© Ursula Schöpper




THESENPAPIER

Ursula Schöpper
Thesen zur Notwendigkeit einer kulturellen Bildung im Bildungssystem Schule
vorgestellt auf der
7. GI-Fachtagung Informatik und Schule '97
"Informatik und Lernen in der Informationsgesellschaft"
15.-18. September 1997
Gerhard-Mercator-Universität - GH Duisburg



zurück zu Information und Theoriediskurs