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Zeitgenössische Kunst in der Schule?


Dankward Meister

Koordinator des musisch-
künstlerischen Fachbereichs

"Wenn wir darauf bestehen, in unserem rastlosen Bedürfnis alles über das Universum und uns selbst zu wissen, dürfen wir nicht über das erschrocken sein, was der Künstler von seiner Reise zurückbringt."   (Read)

Konfrontation mit zeitgenössischer Kunst löst bei vielen Mitmenschen ein Verhalten aus, das vom verständnislosen Kopfschütteln bis zur höchstgradig gesteigerten Aggressivität reicht. Da ist nichts mehr von Schönheit, Harmonie oder Können zu finden, Erbauung wird durch schockierend unästhetische Darstellungen zunichtegemacht. Hört man Fachleute, so lassen äußerst komplizierte Erklärungen den sinnsuchenden Betrachter in Ratlosigkeit zurück, wo doch Kunst für jedermann verständlich sein sollte. Hat es daher überhaupt Sinn, die modernsten Strömungen der Kunst in den Unterricht zu bringen, die Schüler damit zu "verunsichern", statt ihnen gediegenes Wissen und Erleben von gesicherten Werten zu vermitteln, oder sie nur zu "künstlerischem Eigenschaffen" anzuregen?

Die kunstpädagogische Arbeit hat oft Prinzipien der zeitgenössischen Kunst in pädagogische Prinzipien umgesetzt. So finden wir durch den Expressionismus beeinflußt die Erlebnispädagogik, die eine Abhängigkeit von Eindruck und individuellem Ausdruck annimmt. Der Entdeckung der "Kunst der Primitiven" durch die Künstler folgt die Entdeckung der "Kunst des Kindes". Dem politischen Engagement einiger moderner Künstler zufolge soll Kunstunterricht total politisiert werden. Wieder andere fassen Kunst als Leben und Leben als Kunst auf, wobei nicht das Werk zählt, sondern die künstlerische Aktion mit hedonistischem und kathartischem Charakter, die bis ins Somatische zur Selbstheilung des Menschen führt. Sie sind Schamanen gleich befähigt, zerstörerisch wirkender psychischer Kräfte bei sich und ihren Mitmenschen Herr zu werden. Auch diese Vorstellungen lassen sich, verbunden mit dem Ideal vom "ganzen Menschen", im Kunstunterricht als "psychotherapeutischer Anstalt" pädagogisch wirksam machen. Zur Abgrenzung der Überlegungen muß ich darauf verzichten, einzelne Werke zu interpretieren und sie auf ihre pädagogischen Möglichkeiten hin zu untersuchen. Vielmehr möchte ich Prinzipien zeitgenössischer Kunst aufzeigen, die in der pädagogischen Arbeit genutzt werden können, um, wie auch von den Künstlern gefordert, die Utopie von einem neuen Menschen und nicht einer neuen Kunst zu verwirklichen, für Prinzipien also, die eine energetische Komponente haben, die den Schüler befähigen, sein eigenes Leben zu formen.

Bei zeitgenössischen Künstlern soll Kunst im Prinzip

  1. unter Aufgabe ihres affirmativen Charakters (ästhetische Weltversöhnung) als
  2. Störgröße auf die Psyche des Betrachters wirkend (Aktivierung der eigenen schöpferischen Kräfte)
  3. sich den permanent gegen sie als Störgröße geführten Abwehrmechanismen (Ästhetisierung) durch ästhetische Innovation entziehen.

Zu 1.:
Vom antiken Gedankengut beeinflußt entwickelt die bürgerliche Kunst entsprechend ihrer Kultur einen "affirmativen Charakter", wie es Marcuse nennt. Danach wird die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Erlebnisreich von der Realität abgelöst und erlaubt dadurch unerfüllbare Wünsche und Sehnsüchte auszuleben, ohne die Forderung nach Realisierung zu stellen oder gar durchzusetzen. Kunst versteht sich hier als ästhetische Weltversöhnung für den im Daseinskampf Verletzten. Diesen affirmativen Beschwichtigungscharakter lehnen viele zeitgenössische Künstler ab.

Zu 2.:
Mit Hilfe eines Denkmodells aus der Kybernetik möchte ich eine Hauptaufgabe der Kunst darin sehen, daß sie wie eine Störgröße auf den Regelkreis eines lebendigen Systems wirkt. Zur Erreichung eines neuen Gleichgewichtszustandes wird dem gestörten System eine aktive Reaktion abgenötigt. Sind die Regelkreise einer biologischen Zelle nicht mehr in der Lage, auf eine Störgröße zu reagieren, kann man die Zelle als tot ansehen.

Von diesem Beispiel ausgehend sei das zu störende System der sinnesphysiologische und psychische Bereich des Menschen. Somit darf Kunstunterricht nicht zweckfreies musisches Ausgleichstun, Entspannungsstunde für Bastel- und Verzierarbeit, Kunstbetrachtung nicht Zelebrieren von ästhetischen Genüssen sein. Vielmehr soll, besonders im Oberstufenunterricht, Kunst "stören", Kunst, die von Künstlern als Reaktion auf Realität einer Matritze gleich entstanden ist, Kunst als Indiz für das Vorhandene, soll in die Verrichtungen des täglichen Lebens einbrechen, die Erfahrungen aus dem natürlichen und sozialen Umraum in Frage stellen. Die Momente der Neuheit und der Überraschung, des Schocks und der Verfremdung, der Zumutung und der Provokation haben etwas Energetisches, das den Schüler aktiviert, seine eigene Position zu überdenken. Nicht Kunstbetrachtung versetzt den Schüler automatisch in einen kreativen Zustand, sondern die auf die Störgröße erfolgte Eigenaktivität. Kitsch dagegen läßt Eigenaktivität nicht aufkommen, da hier mit Hilfe der effektvollen Darstellung, das ist eine auf Publikumswirkung erprobte Darstellung, die Sinnesorgane völlig gebunden und berauscht werden.

zu 3.:
Da jeweils moderne Kunstformen, soweit man das in den letzten 150 Jahren verfolgen kann, als Störgröße oft äußerste Aggression bei den Zeitgenossen hervorrufen, entwickeln diese bestimmte Abwehrmechanismen, die es erlauben, der Kunst den Stachel zu nehmen. Indem man das Schöne isoliert, es konsumierbar macht (Unterhaltungsindustrie, Mode, Kitsch), wird die der künstlerischen Aussage innewohnende Störgröße ästhetisiert, Kunst wird in die Affirmation gedrängt. Diese Vorgänge seien als Ästhetisierungsmechanismen bezeichnet. "Der Kunstbetrieb oder die Kunstwelt vermochten noch jeden Amoklauf gegen ihre Mauern durch rasch aufgerissene Tore in sich hineinzulenken, und dann begann allemal der Prozeß des Besitzbarmachens." (Reuther)

Der geeignete Ort für die Auseinandersetzung mit der Kunst der Gegenwart ist der Unterricht in seinen Teilbereichen: Analysieren und Interpretieren, Tätigkeiten, die den eigentlichen Gegenpol zum Kunstschaffen bilden, etwas woraufhin Kunst zielt. Früher traute man der Kunstbetrachtung nur rezeptives Verhalten zu und drängte sie zugunsten des Schöpferischen, verstanden als Selbst-künstlerisch-tätig-sein, extrem zurück. Es ist aber Kunstverstehen nicht automatisch durch künstlerische Eigentätigkeit zu erreichen, und kreatives Verhalten kann, wie wir gesehen haben, durch Auseinandersetzung mit Kunst evoziert werden. Das muß die Stellung der eigenen Versuche sich in der bildkünstlerischen Sprache auszudrücken nicht schmälern.

Der Kunstunterricht hat sich zudem mit einer Fülle anderer optischer Informationsträger, als da sind Fernsehen, Film, Foto, Werbung, Comics, Illustriertenlayout, auseinanderzusetzen. Mir scheint besonders notwendig für Schüler zu sein, Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen die gezielte Auswahl aus dem übergroßen Angebot der optischen Informationsträger, seien es Kunst oder Massenmedien, zu ermöglichen. Denn was nützen selbsterstellte Emailleanhänger, wenn man sich als unmündig dem Informationsdruck der optischen Medien gegenüber erweist?


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